Liederabend in der Tonhalle Zürich

Thomas Schacher: “Künderin des Doppelbödigen” – Polina Pasztircsák in der Tonhalle

Dass es für einen gelungenen Liederabend nicht immer Schubert oder Schumann sein muss, zeigte die Sopranistin Polina Pasztircsák in ihrem Rezital in der Tonhalle.

Auch heutzutage stellen sich viele Musikfreunde unter einem Liederabend «Die schöne Müllerin» oder «Dichterliebe» vor. Dass es nicht immer Schubert oder Schumann sein muss, zeigte die Sopranistin Polina Pasztircsák in ihrem Rezital in der Tonhalle. Geboren in Budapest als Tochter eines ungarischen Vaters und einer russischen Mutter, lenkte sie die Aufmerksamkeit nach Ungarn – und nach Frankreich. Mit Bartók, Liszt, Dohnányi, Kodály und Kurtág waren die ungarischen Komponisten prominent vertreten, da fehlte nur noch Ligeti.

Entdeckte Volkslieder
Viel Neuland gab es also an diesem Abend zu entdecken, beispielsweise die «Dorfszenen» von Béla Bartók. Die Melodien und Texte stammen aus slowakischen Volksliedern, die Bartók selber entdeckt hatte. Die fünf Lieder drehen sich in einer hintergründigen Art um das Thema der Liebe. In «Hochzeit» wird die Gefühlslage einer jungen Frau beschrieben, die zum Heiraten ins nächste Dorf aufbrechen soll. «Hat sie keinen Liebsten», kommentiert der Text, «hat dafür ‘nen Gatten.» Die Sängerin brachte den doppelbödigen, manchmal auch derben und plakativen Charakter dieser Gesänge hervorragend zur Geltung. Im «Burschentanz» stellte sie das abschliessende «Tanze, Bursche, tanze doch, juchhe!» laut und fast ordinär heraus. Und der Pianist Jan-Philip Schulze, ein begeisternder Begleiter, hämmerte dazu einen perkussiven Klavierpart in Bartókscher Manier.

Ein Klangfarbenkünstler
Polina Pasztircsák verfolgt, nachdem sie 2009 beim Concours de Genève den ersten Preis gewonnen hat, eine Karriere, die dem Konzert und auch der Oper gewidmet ist. Ihre voluminöse und vibratoreiche Stimme scheint mehr zum dramatischen Gesang als zum Lied zu passen. Dennoch überraschte die Sängerin mit zärtlichen Tönen: Da wäre etwa an Franz Liszts «Oh komm im Traum» zu erinnern, das das Erscheinen der Geliebten im Traum schildert. Nach einem leidenschaftlichen Ausbruch beendete die Sängerin das Lied auf höchster Höhe im Pianissimo.

Eine ähnliche Verlaufskurve nimmt György Kurtágs «Requiem für einen Freund», bei dem sich eine Frau die Untreue ihres Mannes von der Seele schreit, um ihn anschliessend, vielleicht ironisch gemeint, dem Schutz Gottes anzuvertrauen. Bei diesen vier Miniaturen, die man auch als Klavierstücke mit Gesangsbegleitung verstehen kann, zeigte sich Schulze einmal mehr als exzellenter Klangfarbenkünstler.

Neuen Zürcher Zeitung am 3. Juni 2015